Samstag, 18. April 2009

Im gutem Glauben

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Samstag, 18. April 2009

Straffreiheit für Folterknechte, weil diese im „gutem Glauben“ genötigt hätten. Weil sie sich auf die Einschätzungen des Justizministeriums, auf die eigene Sache, verlassen haben; weil sie nur gehandelt hätten nach Richtlinien und Maßstäben, die man ihnen als Tatsache des guten Glaubens verabreicht habe. Wenn dann Knochen knacken, wenn Subjekte – man spricht nicht mehr von Menschen, damit machbar wird, was menschlich gar nicht machbar wäre – wimmern, wenn sie jammern und weinen, um Erlösung beten, wenn sich Körper winden unter Stromstössen, wenn Münder wild nach Luft schnappen, nachdem man sie samt Kopf minutenlang unter Wasser drückte, wenn dem Subjekt eine irdische Hölle dargebracht wird, dabei Informationen seitens der Machthaber dieses Vorgehen legitimieren, zur Notwendigkeit im Namen des nationalen Interesses interpretieren, dann handelt man im gutem Glauben, ist kein Henker, kein Täter, sondern Opfer - Glaubensopfer.

Dabei wäre es nur konsequent, denn die Großen läßt man ja sowieso laufen. Warum also nicht auch die Kleinen? Damit wäre der Vorwurf, wonach immer nur die Kleinen bluten müßten, während die Großen davonkämen, vom Tisch – so einfach kann Gerechtigkeit verteilt werden! Dabei ist dieser Ausspruch schwindender Gewaltherrschaften, wonach Kleine gehängt würden, während Große freikämen, nichts weiter als das selbstgefällige Jammern ganzer Bevölkerungen, die alle Schuld den Machthabern zuschieben wollen, um sich selbst einigermaßen unschuldig fühlen zu dürfen. So war es nach 1945, so war es nach dem Mauerfall – KZ-Wärter und Mauerschützen wurden teilweise verurteilt, Nazi-Bonzen und Honecker flüchteten nach Südamerika. Obama schürt also Gerechtigkeit, denn er verurteilt beide nicht, macht Straffreiheit zum großen Gleichmacher, der über jede soziale Grenze hinweg Gewissen reinwäscht. Und bevor man die Foltergesellen, die sich die Hände persönlich blutig gemacht haben, einem Gerichtsverfahren unterzieht, während Bush und Rumsfeld ihre ins Trockene gebrachten Schäfchen zählen, gleicht man die Bedingungen einfach an.

Dabei wäre das Prinzip, auch die kleinen Ganoven, die Helfershelfer, die Mitläufer und ausführenden Kräfte, die nur im gutem Glauben agieren, die Öfen in Auschwitz nur liefen ließen, weil Statuten und Befehle dies vorgaben, eine gebotene Notwendigkeit. Freilich, auch die Granden, die sich das ganze Spiel, die Regeln der Veranstaltung, ersonnen haben, dürfen nicht davonkommen. Aber es gibt keinen Grund, solche, die das Regelwerk erfunden haben, härter zu bestrafen, als diejenigen, die das Regelwerk "lediglich" munter anwandten. Die Idee zu Foltern ist moralisch nicht verwerflicher, als die selbst begangene Folterung am Mitmenschen. Ja, man muß die Kleinen mit aller Härte bestrafen, sie den gleichen Maßstäben unterziehen, denn unter dem Eindruck blutiger Leiber, jammernder Menschen, unerträglich abgehungerter Gestalten, tot herumliegender Kinder, so wie vor geraumer Zeit; und unter dem Eindruck sich erbrechender Menschen, die in arabischer Sprache um Gnade betteln, die Dinge zugeben, von denen sie nicht einmal eine Ahnung hatten, dass es sie gibt, unter der ethischen Bürde einknickender Charaktere, verheulter Gesichter, suizidaler Verhaltensweisen, kann kein guter Glaube entstehen. Wenn Obama diese Floskel benutzt, dann verhübscht er die Tatsache, dass ein solcher Glaube, ein Höllenkult ist; sicherlich eine Form des Glaubens, aber nicht gut. Es ist der Glaube an das Schlechte im Menschen, an das Schlechte das man am Mitmenschen begehen kann, um dessen Schlechtes herauszuquetschen. Dieser „gute Glaube“ ist lediglich der im Militärareal eingegrenzte Kult des Perversen, eine zum Glauben gewordene Gewaltorgie, die das Knochenbrechen als Amen und den von Stromzufuhr zuckenden Körper als Kruzifix begreift. Was die Menschheit nicht vermochte, nämlich ein irdisches Paradies zu erschaffen, erschuf sie im Negativen. Die irdische Hölle, als Ort des guten Glaubens. So einen paradoxen Zustand kann nur das paradoxe Wesen des Menschen hervorrufen. Mit Camus gesagt: „Wir Kinder dieser Jahrhundertmitte brauchen keine anschaulichen Schilderungen, um uns derartige Orte vorstellen zu können. Vor hundertfünfzig Jahren brachten Seen und Wälder das Gemüt zum Schwingen. Heute stimmen Lager und Gefängniszellen uns lyrisch. Ich überlasse die Ausmalung also vertrauensvoll Ihrer Phantasie.“

Die Hölle als Prinzip des Irdischen. Denn mit der Schließung dieses Schattenreiches brechen sicherlich keine paradiesischen Zeiten über uns herein. Die ohne rechtliche Grundlage internierten Muslime kehren in ihre Heimatländer zurück, verbittert über die USA, die foltern ließen, aber auch verbittert über die ganze westliche Welt, die Kriege im Namen der Demokratie mitgetragen hat, die aber demokratische Behandlung für die Internierten nicht zum Gegenstand einer Debatte machen wollte. Und zu allem Überdruss werden die Teufel, die sich frisch ans Blutwerk machten, die ihnen Elektroklammern an Brustwarzen setzten, sie nackt auszogen und demütigten, freigesprochen von aller Schuld, weil sie ja im Sinne des guten Glaubens unschuldig seien. Mancher inhaftierte Taliban, der den Lehren seiner Herren folgte, der womöglich seine Frau kleinhielt und Musik ächtete, war ebenso dem guten Glauben seiner Herrn erlegen. Doch das ist bedeutungslos, er folgte im gutem Glauben dem Falschen – was wir für falsch erachten. Verbittert kehren sie zurück, und Obama sei Dank auch gedemütigt, denn ihr erlittenes Leid ist nicht einmal einer Gerichtsverhandlung wert. Die vielgepriesene Demokratie, die die USA in die Welt bomben wollten, ist nicht einmal dazu in der Lage, die eigenen Quälmeister zu belangen, sie zu verurteilen. Das Leid des Moslems zählt nichts, es ist belanglos, selbst wenn es offensichtlich in einem illegalen Umfeld passiert, selbst wenn fassbares Unrecht waltet, selbst wenn sogar jedem ethisch unbegabten Menschen einleuchtet, dass hier eine ganz große Sauerei begangen wurde. Solche Gestalten straffrei zu belassen, ist ein eindeutiges Zeichen an die muslimische Welt. Was Obama hier betreibt ist die Hölle, denn mit solchen Maßnahmen, nähert man sich dem Islam nicht an, man stößt ihn weg, sorgt für weitere irdische Unterwelten, neue Horrorszenarien, in denen Blut fließt, Körperteile fliegen und Tränen vergossen werden.

Nebenbei gliedern sich diese Knechte der Unmenschlichkeit heimlich, still und leise in die US-amerikanische Gesellschaft ein; seelische Krüppel, die aus gutem Glauben heraus Leid verteilten, ohne auf die Idee zu kommen, dass sie etwas tun, nationale Sicherheit hin oder her, was aus humanistischen Gründen niemals gerechtfertigt sei. Befehl war Befehl, Anordnung war Anordnung. Man habe nur so gehandelt, weil man mußte. Persönlich sehe man das vielleicht anders, aber es gibt Richtlinien. Wo käme man da hin, wenn plötzlich jeder sein Gewissen zum Maßstab erhebt? Den Deutschen muß man solche Ausreden nicht erklären, ältere Jahrgänge haben sich gerne dieser Litanei an Ausflüchten bedient, jüngere Jahrgänge haben diesen amoralischen Quatsch, den zur Ausrede gewordenen Untertanengeist viel zu oft hören müssen. Es hat lange genug gedauert, bis man offen erklären konnte, dass nicht nur die Hitlers und Himmlers schuldig seien, sondern auch die Mayers und Hubers, die uniformiert Befehle umsetzten, die freiwillig kein klar denkender Mensch einem anderen Menschen antun würde. Und solche Gestalten, die sich hinter Uniform und Vorgesetzten verstecken, damit ihre mangelnde charakterliche Erscheinung gar nicht erst sichtbar wird, werden der US-amerikanischen Gesellschaft zugeführt. Während man dort wie hier, Menschen (zu recht) verurteilt, weil sie andere Menschen vergewaltigen oder gewaltsam ausrauben, während man sogar prügelnde Jugendliche strafrechtlich verfolgt, sollen die staatsgelenkten Gewalttäter, die menschliche Wesen mit Gewalt gebrochen und deren Seelen vergewaltigt haben, mit Straffreiheit auszeichnet werden. Der staatliche Gewalttäter hat, wie beinahe immer, einen Freifahrtschein. Im Namen der Nation ist Mord kein Mord, Folter keine Folter – im Namen der Nation nennt man es Krieg oder Liquidierung, nennt man es Notwendigkeit aus Gründen der nationalen Sicherheit. Des Staats Euphemismen fördern den guten Glauben, sie lassen es zu, dass Menschen zu Henker werden, Gewalt mit froher Miene austeilen. Solche Henker, die im Sinne des Staates keine Henker sind, sondern dessen Mitarbeiter, treuergebene Angestellte, haben nicht pervers genug gehandelt, um die eigene Bevölkerung vor ihrem entmenschlichten Wesen schützen zu wollen. Was für den Vergewaltiger gilt, gilt nicht für den Henker.

Es mag nur eine Randerscheinung in Obamas Politik sein, eine belanglose Entscheidung, die zunächst niemanden wehtut. Aber betrachtet man diesen realpolitischen Nihilismus der Straffreiheit, wird klar, dass Obama nicht einmal im Ansatz der Heiland ist, zu dem man ihm gemacht hat. Er betreibt das Geschäft staatlicher Dominanz- und Repressionspolitik, wie es sein direkter Vorgänger betriebt. Er betreibt es vielleicht von der anderen Seite, ein wenig gezügelter, mit charmanter Miene – aber er betreibt es. Der Respekt vor der muslimischen Welt bleibt Phrase, weil das Leid der Internierten ihm nicht einmal ein Strafprozess wert ist, weil er Unrecht zum Gleichmacher erklärt, die mandatsträchtigen Erfinder und Befürworter der Folterpolitik ebenso zufrieden läßt, wie diejenigen, die befürwortend mitmachten. Pragmatismus nennt man das, politische Notwendigkeit sei das, dabei ist es nichts anderes als Nihilismus und damit eine Verschlechterung der Weltzustände.

Mittwoch, 15. April 2009

Was ihr dem Geringsten meiner Brüder...

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Mittwoch, 15. April 2009

Wo den gesellschaftlich Ausgestoßenen geschmäht wird, da wird auch mir geschmäht.
Wo des Ruheständlers Lebensberechtigung angezweifelt, sein Alter als Bürde für die Gemeinschaft verunglimpft wird, da entzieht man auch mir die Lebensberechtigung und macht mich zur Bürde.
Müssen Kinder mit gesellschaftlichem Segen in Armut ausharren, so wandle ich zum harrendem Kinde.
Raubt man Kranken in finanziellen Zwängen die Therapie, die Hoffnung, die Schmerzfreiheit, so wirft man mich ebenso in Schmerzen, nimmt mir ebenso Hoffnung.
Leidet der Wanderarbeiter an Ruhe- und Heimatlosigkeit, sieht seine Zukunft als schwarzes Loch, so ist auch meine Zukunft löchrig und schwarz, so hemmen auch mich fehlende Ruhe und verlorengegangene Heimat.
Spottet man Behinderter, grenzt sie aus, sieht sie als humane Mangelerscheinungen, möchte auch ich ausgegrenzt, verspottet und als Mangelerscheinung verschrien werden.
Benachteiligt man Schwule, reimt man ihre sexuelle Emanzipation zu Spöttelversen, so stiehlt man auch mir die sexuelle Emanzipation, so macht man auch mich schwul.
Beseitigt man Obdachlose, um das Stadtbild zu säubern, säubert man dieses städtische Bild auch von mir, werde ich zum Obdachlosen.
Verfolgt man Menschen ob ihrer Hautfarbe, ihrer Religion, ihrer politischen Gesinnung, so verfolgt man auch mich, tastet meine Hautfarbe, meine fehlende Religion, meine politische Gesinnung an.
Sperrt man Andersdenkende weg, so bestehe ich darauf, auch selbst weggesperrt zu werden.
Fällt man in Landstriche ein, mordet und brandschatzt, vergewaltigt und foltert, ermordet man auch mich, brandschatzt an meiner Würde, vergewaltigt man meine Ethik, foltert man meine pazifistische Haltung.
Unterdrückt man Meinung, unterdrückt man meine Meinung; unterdrückt man Persönlichkeitsrechte, unterdrückt man meine Persönlichkeitsrechte; unterdrückt man Freiheit, unterdrückt man meine Freiheit.
Interniert man Flüchtlinge auf australischen Inseln, sperrt sie jahrelang hinter Zäune, so interniert man mich, sperrt meinen Gerechtigkeitssinn hinter Zäune.
Ich werde zum Juden, wo man Juden als Übel beleidigt; ich werde zum Schwarzen, wo man Schwarze als faule Nichtsnutze entwürdigt; ich werde zum Indio, wo man Indios aus ihren Dörfern jagt, sie interniert oder vergiftet.

Was man dem Geringsten meiner Mitmenschen antut, das tut man auch mir an. Was an Unrecht und Ungerechtigkeit in der Welt steht, steht auch in meinen Räumen. Nichts geschieht auf der Erde, was nicht auch mich betrifft. Was mich immer betrifft. Wenn sie heute das Gesindel einsperren, ich dabei schweigend, wenn sie morgen die Alten in Kollektivheime stecken, ich dabei schweigend, wenn sie übermorgen ganze soziale Schichten in Wohngegenden pferchen, ich dabei schweigend, wer soll dann sein Schweigen brechen, wer wäre dann noch da, der sein Schweigen brechen könnte, wenn sie mich holen? Jede begangene Untat, jede von Staaten, Industrien, Ideologien, Parteien, Organisationen willkürlich in Kauf genommene oder mit Kaltschnäuzigkeit begangene Untat, ist eine Untat an mir.

Die Welt im Kleinen, vor der eigenen Haustüre zu ändern, damit sie auch vor anderen Haustüren, vor Hütteneingängen, vor Iglupforten, unter Palmenblättern verändert wird, ist ein Ansatz. Das oft gehörte, immer wieder von der Bürgerlichkeit als Praxis der direkten Tat postulierte Reduzieren auf ein "bloß vor der Haustüre ändern", damit eine unsichtbare Hand auch fern unserer zur Hölle werdenden Heimat Änderungen vollziehen würde, greift zu kurz. Den Blick für das Ganze nie verlieren, es persönlich nehmen, wenn Freiheit am anderen Ende der Welt mit Stiefelspitzen getreten wird, solidarisch sein, wenn nicht physisch, so doch psychisch! Wo man dem Geringsten meiner Mitmenschen Unrecht antut, und sei er Mörder, sei er Verbrecher, dem die Vertreter eines Rechtsstaates dennoch Unrecht widerfahren lassen, da tut man mir Unrecht an. Eine Gesellschaft der Zukunft muß begreifen, dass der Flügelschlag eines Schmetterlings Orkane auslösen kann; muß aber auch begreifen, dass Gewalt am anderen Ende der Welt, ebenso Orkane im eigenen Umfeld entstehen lassen kann.

Freitag, 3. April 2009

Sit venia verbo

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Sit venia verbo

Donnerstag, 2. April 2009

"Zahlreiche Ärzte, die sich im Dritten Reich schwerer Verbrechen schuldig gemacht haben, beginnen nach Kriegsende eine zweite Karriere. Manche werden nie ausgeforscht, andere nur zu kurzen Haftstrafen verurteilt oder begnadigt. Gerichte halten den Massenmord in den Gaskammern für „eine der humansten Tötungsarten“. Ärztekammern vermögen in der Teilnahme an der Euthanasie oder an Menschenversuchen kein standeswidriges Verhalten zu erkennen. Ärzte, die in den Konzentrationslagern an der Rampe standen, dürfen wieder praktizieren. Professoren, die unwertes Leben selektierten, bilden akademischen Nachwuchs aus. Legitimationstheoretiker der nationalsozialistischen Rassen- und Vererbungslehre fahren in ihren wissenschaftlichen Publikationen dort fort, wo sie nach Kriegsende verunsichert innegehalten hatten.
Viktor von Weizsäcker, der Onkel des späteren Bundespräsidenten, darf zwei Jahre nach Kriegsende wieder schreiben: „So wie die Amputation eines brandigen Fußes den ganzen Organismus rettet, so [rettet] die Ausmerzung der kranken Volksteile das ganze Volk.“ Er fühlt sich im Recht: „Wenn das ganze Volk in Lebensgefahr schwebt und durch Beseitigung einzelner Individuen gerettet werden kann, müssen diese Individuen geopfert werden.“ Er habe sich „berechtigt und verpflichtet“ gefühlt, „diese Opfer zu erzwingen, also zu töten.“
1942 hat sich Weizsäckers Neurologisches Forschungsinstitut an der Universität Breslau von der oberschlesischen Kinderfachabteilung Loben mit Gehirnen getöteter Schwachsinniger beliefern lassen. Nach 1945 wird der uneinsichtige Neurologe zum Vorbild jener Medizin-Verbrecher, die sich in den Prozessen auf die Wissenschaftlichkeit ihrer Arbeit berufen.
Otfried Foerster, Weizsäckers Vorgänger in Breslau, der die entsetzlichsten Versuche an lebenden Menschen ausführte, wird von der Kollegschaft postum verherrlicht. Die Deutsche Gesellschaft für Neurochirurgie verleiht 1953 zum ersten Mal eine Otfried-Foerster-Medaille.
Foersters Lehrmeister Robert Gaupp, Legitimationstheoretiker der Euthanasie, der auf der Jahresversammlung des Deutschen Vereins für Psychiatrie 1925 für die „Unfruchtbarmachung geistig und sittlich Kranker und Minderwertiger“ votiert hat, wird in dem 1959 erschienenen dreibändigen Werk „Große Nervenärzte“ als „vorbildlicher Wissenschaftler“ beschrieben. Herausgeber Kurt Kolle glorifiziert Väter der Euthanasie wie Max de Crinis oder Carl Schneider ebenso überschwänglich wie jene Wissenschaftler, die mit den Organen Ermordeter experimentieren. Sein Lob für Euthanasie-Befürworter und „Irrenanstalten alten Stils“ gipfelt in der Aufforderung an junge Kollegen, „den großen Vorbildern nachzueifern“.
Als die Sterilisation geistig Behinderter Mitte der siebziger Jahre in Deutschland wieder zum Thema wird, betont eine Drucksache des Deutschen Bundestages die Einwilligung der Bundesvereinigung Lebenshilfe für geistig Behinderte. Deren Vorsitzender: Professor Werner Villinger, Euthanasie-Gutachter des NS-Regimes, der nach Kriegsende eine zweite Karriere gestartet hat.
Professor Hermann Muckermann, der sich schon 1926 für seine Erbgesundheitsforschung vom Jesuitenorden hat freistellen lassen, publiziert nach dem Krieg so weiter, als hätte es die Politik der Ausrottung nie gegeben. In der Diktion nationalsozialistischer Propagandapamphlete wettert er dagegen, dass man „schwer belastete Geisteskranke“ mit großem Aufwand unterbringe, während „gesunde Mütter vieler Kinder in Kellerlöcher verelenden“. Angesichts der Tatsache, dass Menschen in Heil- und Pflegeanstalten ein hohes Alter erreichen, könne man sich ausrechnen, „wie viel wir für erbgesunde Familien gewinnen würden, wenn die Fürsorgebedürftigkeit eingeschränkt werden könnte“.
Zwei Jahre nach Kriegsende wird sein Buch „Der Sinn der Ehe“ neu verlegt, dessen Erstfassung 1938 erschienen war. So liest es sich auch. Muckermann mahnt zur national orientierten Gattenwahl: „Wer das ureigene Gesicht eines Volkes bewahren will, wird sich [...] für Ehen innerhalb des gleichen Volkes einsetzen. Ehen von Menschen, deren Prägung so große Verschiedenheit aufweist, wie sie zwischen europiden und negriden Völkern stehen, sind abzulehnen.“
Zu seinem 75. Geburtstag erhält der Mann, der der Ausmerzung Minderwertiger so beredt Vorschub geleistet hat, das Große Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik, 1957 ehrt man ihn anlässlich seines achtzigsten Geburtstags als „eine der ehrwürdigsten Erscheinungen des deutschen Geisteslebens“.
In dem 1940 erschienen Buch „Erbpflege und Christentum“ wird als Pendant zu Muckermann auf katholischer Seite Professor Hans Harmsen als „Wegbereiter der Erbpflege in der evangelischen Kirche“ gewürdigt. Der Legitimationstheoretiker des NS-Regimes setzt nach Kriegsende seine Agitation im Sinne des nationalsozialistischen Erbgesundheitswahns ungerührt fort. Einige Monate nach der Kapitulation wird ihm die Leitung der Hamburger Akademie für Staatsmedizin anvertraut. Dort darf er angehende Amtsärzte davon überzeugen, dass es falsch sei, dem Sterilisationsgesetz „eine typisch nationalsozialistische Ideologie unterzuschieben“, weil sich dieses „schon vor 1933 organisch entwickelt hat“. An der Hamburger Universität gründet Harmsen die Deutsche Akademie für Bevölkerungswissenschaft, an der Kollegen wie Hermann Arnhold tätig werden, der im Dritten Reich dem Reichssicherheitshauptamt als Zigeunerexperte dienstbar war.
Harmsen sammelt Titel und Ämter wie andere Briefmarken. Er gehört in führender Position der Ernst-Barlach-Gesellschaft, der Deutschen Gesellschaft für Hygiene und Mikrobiologie und der Weltgesundheitsorganisation an. 1952 avanciert er zum Vorsitzenden von Pro Familia, Deutsche Gesellschaft für Ehe und Familie e.V. In dieser Funktion rückt Harmsen in den Beirat des Bonner Familienministeriums auf, das sich auch dann nicht von ihm trennt, als seine Fixiertheit auf die erbbiologischen Vorstellungen des Nationalsozialismus öffentlich thematisiert wird. „Es gibt Menschen, die immer auf der richtigen Seite stehen: dort, wo Karrieren vergeben werden“, schreibt Ernst Klee über ihn.
Ohne Sensibilität für die Nöte der Opfer bestärken selbst höchste Repräsentanten der Politik die Öffentlichkeit in ihrer Haltung, die Selbstreinigung von einer verbrecherischen Ideologie zu verweigern. Als ein ehemaliger NS-Mediziner aus dem Mitarbeiterstab von Propagandaminister Joseph Goebbels vor der Deutschen Bundespräsidentenwahl 1954 wissen will, ob das „entsetzliche Gerücht“ stimme, dass Theodor Heuss „Judenmischling“ sei, antwortet dessen persönlicher Referent ungerührt: Bereits im Jahr 1932 habe eine gerichtliche Auseinandersetzung mit einer nationalsozialistischen Tageszeitung die „reine Rasse“ seines Chefs dokumentiert.
Mehr als vierzig Jahre später ist die Sensibilität kaum größer. Als Hannelore Kohl von der Medizinischen Fakultät der Greifswalder Universität zum 50. Jahrestag des Kriegsendes den Doktortitel honoris causa entgegennimmt, bleibt unerwähnt, dass diese Bildungsstätte mit ihrem Institut für Vererbungswissenschaft Vorreiter nationalsozialistischer Vernichtungspolitik und Tatort zahlloser medizinischer Verbrechen war. Arthur Gütt, Mitautor des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, hat hier sein Medizinstudium absolviert. Politiker scheint das ebenso wenig zu interessieren wie die auf Vertuschung und Verdrängung eingeschworene Ärzteschaft."
- Hans-Henning Scharsach, „Die Ärzte der Nazis“ -