Deutsch
Französisch
Warum eine deutschsprachige Ausgabe?
Bevor wir uns daran machten „L‘insurrection qui vient“ zu übersetzen, waren
wir eigentlich der Meinung, es nicht zu tun. Im Grunde dachten wir, dass
dieses Buch zu speziell auf die französische Situation zugeschnitten ist, in den
Beispielen wie in der Schwerpunktsetzung.
Warum haben wir es trotzdem getan?
Der wichtigste Grund ist wohl, dass wir es satt haben, politische Pamphlete
zu lesen, die sich mit der Darstellung der schlechten Verhältnisse begnügen,
ohne konkrete Schritte zu ihrer Aufhebung in die Diskussion zu werfen. „Der
kommende Aufstand“ beschreibt die bröckeligen Fundamente der gegenwärtigen
Ordnung nicht, um aufzurütteln oder Therapien zu ihrer Rettung
vorzuschlagen, im Gegenteil. Die Zerbrechlichkeit der verschiedenen Aspekte
dieser Welt der Domestizierung und Vernutzung, ihre neusten Transformationen
werden nur durchgespielt, um endlich ihre Zerstörung konkret ins Auge
zu fassen. Die Selbst-Zurichtung der Individuen, die sich mit Pillen im Rennen
der Vermarktung halten, die Gewöhnung schon der Kleinsten daran, dass
ihr Leben in der Selektion für eine Arbeitswelt bestehen wird, deren einziger
Zweck der Erhalt des Hamsterrades selbst ist; der Angriff auf unser Leben
wird nur geschildert, damit wir uns darin erkennen und dagegen in Stellung
bringen können. Die Rundreise durch das trostlose Existieren der Metropole
ist Aufklärung nicht im mythischen, sondern im militärischen Sinne: die
Klärung eines gemeinsamen Ausgangspunktes, der operativen Bedingungen
einer Real-Exit-Strategie aus der globalen Misere, und nicht zuletzt der praktischen
Hebel, die uns in diesem Kampf zur Verfügung stehen.
Die Tatsache, dass der soziale Angriff der Eliten in den verschiedenen Staaten
der westlichen Welt zusehends ähnliche Formen annimmt, kann eine derartige
Positionsbestimmung über alte kulturelle Grenzen hinweg tragen. Die Vermessung
und Verwaltung des Menschenmaterials kommt uns allen bekannt
vor, auch wenn Dateien und Polizeien andere Namen tragen. Der Klartext
hinter der Billig-Propaganda von Managern und Kriegsherren tritt international
so klar zutage wie die Erfahrung sich verschärfender Ohnmacht angesichts
der unbelehrbaren Arroganz der Macht. Die Kolonisierung verarmter
Viertel, der expandierende Assimilationsdruck nicht nur in den Banlieues
schärft das Verständnis eines Widerstands, der sich nicht mehr mit Forderungen
aufhält. Der sich in der Tat organisiert.
Wir schätzen den Text der französischen GenossInnen als Beitrag zur
uralten, immer wieder neu aufflammenden Debatte darüber, wie wir uns
diesen Quatsch vom Hals schaffen können, diese ewig gleiche Reduzierung
der Welt auf die Verwertung der Welt. Eine Gebrauchsanweisung für die
Revolte ist das Buch nicht. Das wäre vollkommen absurd. Jedes Aufbegehren
ist so einzigartig wie die Revoltierenden selbst; eine Vielfalt an Traditionen,
Kampferfahrungen und Träumen, erkennbar aber nicht vereinheitlicht durch
den Glutkern ihrer Sehnsucht nach Befreiung. Viele Überlegungen über den
kommenden Aufstand finden wir inspirierend, manche Taktiken direkt übertragbar,
und einiges führt uns zu anderen Schlussfolgerungen, weil unsere
Stärken andere, unsere Kämpfe nicht identisch sind. Richtig und gut für die
Überwindung hiesiger Defizite finden wir, dass der in diesem Buch vertretene
Zugang helfen könnte, den Status Quo linker Teilbereichskämpfe aufzubrechen,
der im Horizont der Opposition oft an die unverbundene Aufzählung
unzähliger Antis gebunden bleibt und dadurch nahe legt, sich in feindlichen
Kategorien einzukästeln.
Die Bedeutung der Diskussionen und praktischen Versuche, die in den letzten
Jahren um die Idee des Aufstands kreisen, sehen wir in der Erneuerung einer
lebendigen revolutionären Perspektive, im handgreiflichen Ringen um die
Wiedervereinigung von Denken und Handeln - nicht in 500 Jahren oder am
anderen Ende der Welt, sondern hier und heute. Das Experimentieren mit
Alternativen und der Kampf gegen das Establishment sind nicht nur nicht
unvereinbar, sie ergänzen sich und sind unmittelbar aufeinander angewiesen.
Das unsichtbare Komitee fordert uns auf, die Waffe der Kritik nicht in den
Dienst der eigenen Entwaffnung zu stellen und den Kampf auf der Strasse
nicht in den Abschied vom Nachdenken darüber münden zu lassen, wie wir
uns langfristig halten können, denn der Aufbau autonomer Strukturen ist
notwendige Basis für jeden ernst gemeinten Angriff auf dieses System. Der
allerdings hat viele Formen und bringt unterschiedlichste Kommunen hervor.
„Der kommende Aufstand“ wird uns nicht ersparen, in unseren eigenen Zusammenhängen
klar zu kriegen, wer unsere Feinde sind und wo ihre Schwachstellen
liegen, wie sie angegriffen werden können und welche Fallen es zu
vermeiden gilt. Wir können den Text nutzen, um unsere Ideen und unsere
Praxis weiterzuentwickeln.Wir können kritisch darauf antworten und die internationale
Debatte um unser Tortenstück Erfahrung bereichern, und so dazu
beitragen, eine neue Sprache der Rebellion zu entwickeln. Notwendig ist das
Buch dafür keinesfalls. Um unsere Situation zu erkennen und daraus aufzubrechen
braucht es keinen Masterplan, keine eine Wahrheit, die uns offenbart
werden muss. Wir können an jeder Ecke loslegen, unser Leben in die eigenen
Hände nehmen und uns gegen die herrschenden Verhältnisse verbünden.
Was die unsichtbaren GenossInnen allerdings zu bedenken geben, ist, dass es
zum Schmieden einer nachhaltigen, den absehbaren Attacken der Gegenseite
gewachsenen Strategie Sinn macht, eine gewisse Koordination zwischen den
einzelnen Gruppen zu kultivieren, um eine gemeinsame Verteidigung zu
ermöglichen.
Als Diskussionsvorschlag in Richtung einer derartigen strategischen Kooperation
finden wir das Buch der französischen GenossInnen gut, nicht als
neue Schule oder Kult. Diese undogmatische Weigerung beinhaltet, dass es
uns im Grunde gleichgültig ist, ob die AutorInnen die Emanzipation der
anderen Kollektive zentral am Herzen liegt oder ob sie lieber alle nach ihrem
Ebenbild schaffen würden. Es geht nicht darum ja oder nein zu ihrem Vorschlag
zu sagen, sondern um die Eskalation einer Diskussion, zu der auch sie
nur beigetragen. Ein libertärer Aufstand wird sich nicht ausbreiten, von der
Revolution ganz zu schweigen, solange der Ruf nach FührerInnen uns innerlich
schwächt. Wie alle Bücher hat auch „Der kommende Aufstand“ seine
blinden Flecken, und die Unterschätzung der Möglichkeit einer autoritären
Wendung der ganzen Angelegenheit zählt mit Sicherheit dazu. Was nichts
anderes heisst, als dass diese Auseinandersetzung noch darauf harrt, von uns
geführt und aufgeschrieben zu werden! Wenn es gelingt zu vermeiden, die
Diskussion über den kommenden Aufstand auf eine banale Zugehörigkeitsmaschine
einzudampfen, könnten folgende Analysen und Vorschläge helfen, uns
mit organisierteren Strukturen gegen die fortschreitende Zerstörung unserer
Lebensgrundlagen zu formieren und eine lange nicht gesehene Schlagkraft zu
entfalten.
http://www.trueten.de/permalink/An-der-Bahnsteigkante-knapp-vor-Ankunft-der-Revolution.html
Samstag, 20. November 2010
"L‘insurrection qui vient" - An der Bahnsteigkante knapp vor "Ankunft der Revolution"
Einige Anmerkungen zu "L‘insurrection qui vient". Für ein endgültiges Urteil reicht die flüchtige Befassung nicht aus. Das Werk sollte auf jeden Fall breit diskutiert werden.
Das in Frankreich schon lange kursierende Manifest zur neuen - ganz anderen - Revolution ist in den letzten Tagen zugleich eindringlich besprochen worden im FREITAG - und sehr von oben herab in der Frankfurter Rundschau. Vor allem berichtet die FR gar nichts von dem, was FREITAG gewissenhaft ausbreitet. Nach französischem Muster scheint es inzwischen - zumindest in Berlin - in linken Buchhandlungen schon Durchsuchungen zu geben, um die dünne Broschüre als potentielle "Aufforderung zur Gewalt" der Neugier deutscher Leserinnen und Leser zu entziehen. Nichts lächerlicher, aber auch nichts gefährlicher als solche Versuche, die gut gepolsterte staatliche Hand über Mund, Ohr und Auge zu legen.
Mit dem gleichen Recht könnte man auch das "Kommunistische Manifest" mal wieder verbieten. So unerbittlich beide Schriften die Notwendigkeit der revolutionären Erhebung beweisen, so wenig handwerkliche Anweisungen zu ihrer Durchführung enthalten sie. Zum Beispiel zum Hakenwerfen gegen Elektro-Leitungen oder zum "Schottern". Hinzu kommt, dass beide Werke seit geraumer Zeit aus dem internet herunterzuladen sind, nach Wunsch auf Deutsch oder Französisch. Staatliche Fürsorglichkeit kommt auf jeden Fall zu spät.
Der Text beginnt mit schärfster Analyse der Gesamtkrise. Mit einem Ohr aus dem Fernseher die Schlingenziehung und Selbsteinwickelung der GRÜNEN in Freiburg verfolgend, gewinnt für den Leser die pointierte Zuspitzung erst vollen Reiz.
Wie La Rochefoucauld, Retz und andere unvergessene Schriftsteller schon des Barock beschäftigen sich die anonymen Autoren mit dem menschlichen Zusammenleben. Analyse und Beschreibung. Der Beiname "Moralisten" der Gruppe erzeugt im Deutschen die irreführende Assoziation, es gehe bei diesen Überlegungen um "Moral". Also um Wegweisung. Um die geht es diesen Beschreibern am wenigsten. So haben auch die Anonymen sich schon im Stil vor allem an einen der letzten französischen Moralisten- Debord mit seinem Buch über das "specctacle" gehalten.
In mindestens drei Punkten gehen die Herausgeber über die Feststellungen auch eines Debord hinaus. Wird von den meisten Lebenskünstlern hier wie im Nachbarland eine Art sanfter Gefälligkeit in der Wahl der Lebensformen vorgeschlagen, nach den Regungen unseres "Ich", weisen die Texte nach, dass dieses Ich - von Descartes zu Beginn der Neuzeit als die Grundlage des uns gegebenen Seins gepriesen -, nur noch über hundert Prothesen sich erhalten und bewegen kann. Allerlei Begriffe aus den Hilfswissenschaften müssen herhalten, damit wenigstens die Ich-Illusion durchhält. So etwa Aufstiegswillen und Geltungssucht als Natur-Konstanten. Wir haben uns deren nicht zu schämen, sondern dem tüchtig zu folgen, was Natur uns vorschreibt. Die der "res cogitans" einst von Descartes versprochene Erkenntnis entfällt dabei komplett.
Scharf auch die Vernichtung aller sozialen Bindungen in den Papieren. Alles Soziale ist nicht nur zur Ware geworden, sondern wird auch als solche eingetrieben von denen, die Arbeitsplätze zuzuweisen haben.Die Freundlichkeit der Sekretärin gegenüber gewissen Personen wird ebenso Pflicht wie abweisendes Verhalten gegenüber betrieblich nicht Vorgesehenen.Alles abrufbar und der Kontrolle ausgesetzt.
Schneidend schließlich die Abweisung aller Verpflichtungen gegenüber der "Umwelt". Das deutsche Wort sagt hier noch mehr als das französische, dass diese Umwelt uns als ein total Fremdes gegenübertritt. Ein Mantel. Matt dargeboten - oder als Zwangsjacke übergezogen? Gleichviel. Mit mir als empfindendem Wesen hat diese Umwelt keinerlei Verbindung. Umwelt - sagen die Autoren- das ist ihnen der Küchengeruch im Hausgang, das Rascheln der Platanenblätter vor der Tür im Herbst, der kratzige Geschmack des nicht vollvergorenen Weins. Kritisiert wird also am Begriff Umwelt, dass noch über Descartes hinaus jede unmittelbare sinnliche Berührung weggedacht werden muss mit dem, was uns umgibt.
All diesen Zerstörungen eines jeden Zusammenhangs setzen die atomisierten Autoren des Papiers in einer atomisierten Welt spontane Zusammenschlüsse entgegen. Alle Zusammenschlüsse, in welchen die Teilnehmenden einen unerschütterlichen Willen zum "Nein" entwickeln, können als "Commune" verstanden werden.
Mit diesem Bild verbinden die anonymen Autoren ihr eigenes Auftreten. Namenlosigkeit ist erste Voraussetzung- und notwendige Tarnung. Es darf keinen Führerkult geben in der Welt der Commune. Nicht einmal zugegebenen Beratungsbedarf. Paradoxerweise wird gerade das gerühmt, was in sit-ins meiner Erinnerung nach am meisten nervte: das Reden um des Redens willen. Das Reden, in welchem das Gemeinschaftsgefühl erst zu sich kommen soll, als Ausdruck, als Geste, als Schöpfung des Gemeinsamen, das doch zugleich immer schon vorausgesetzt wird.
Gegen den analytischen Ansatz der Gruppe ist nichts einzuwenden. Nichts auch gegen die Überlegungen zur Gewalt. Da der Staat bekanntlich nicht nur Gewalt - gegen seine Funktionäre - scharf verfolgt, sondern immer neu nach den Gegebenheiten festlegt, wo Gewalt anfängt und was als solche zu gelten hat, ist klar, dass der Gewaltvorwurf auf jeden Fall erhoben wird und in Rechnung zu stellen ist.
Ein Einwand wurde von den deutschen Rezensenten immer neu erhoben: Wenn erst der Staat abgeschafft ist und "Kommunen" sich in gegenseitiger Berührung des Geländes bemächtigt hätten, würden dann nicht wie im heutigen Mexiko einfach Banden sich selbst den Titel der Commune zusprechen und brutal um sich greifen? Nicht einmal mehr durch die restliche staatliche Autorität - wie jetzt - zurückgehalten?
Das Argument zieht nur dann, wenn die Kraft, die die Communes zusammenhält, für schwächer angesehen wird als die Gewalt der Störenden.
Über diese Kraft wird freilich im Papier selbst analytisch nichts ausgesagt, nur das Beispiel der spontanen Revolten in Deutschland und Frankreich aufgezählt. Da die gleichen Banden nun eben ein Mexiko durchziehen, das selbst Staat zu sein beansprucht in voller Brutalität, könnte das Befürchtete auf jeden Fall auftreten. Mit und ohne beibehaltenen Staatsfetisch.
Mir drängt sich eine ganz andere Schwierigkeit auf. Um - als einer der Autoren - die unverbrüchliche Einigkeit in den Communen, in den aufgewachten Vorstädten Frankreichs zu empfinden, müsste einer von Anfang an tief drinstecken. Den Gelberübengeruch im Hausgang selbst gerochen haben seit seinem fünften Lebensjahr - und ihn bejahen. Nebst allem, was Nase und Ohr in diesen Gegenden erreicht.
Das, scheint mir, setzt vorbehaltlose Zustimmung voraus. Wie ließe sich damit aber verbinden die bittere Distanz zu allem Bestehenden, das manchmal fast höhnische Drüberwegsein des Durchschauenden, Wissenden? Mit anderen Worten: das abweisende Stilbewusstsein, das genau die Verführungsgewalt der Texte ausmacht?
Bei aller gefühlsmäßigen Zustimmung zum Anarchismus fühlte ich mich - trotz seiner gedanklicher Schwäche - eher verbunden mit Stirner und seinem "Einzigen und sein Eigentum" - oder mit dem amerikanischen Thoreau in der Hütte. Also immer trotz allem: Draußen.
Diese Schranke könnte ich im Augenblick nach erster Lektüre des Manifests nicht überspringen, bei aller Bewunderung für den scharfen Sinn und das kühne wollende Herz, die daraus sprechen.
Das Buch kann als PDF Datei herunter geladen werden, auch im französischen Original sowie in einer englischsprachigen Übersetzung. Wer es lieber als Printausgabe lesen möchte, kann es beispielsweise hier bestellen.
Das in Frankreich schon lange kursierende Manifest zur neuen - ganz anderen - Revolution ist in den letzten Tagen zugleich eindringlich besprochen worden im FREITAG - und sehr von oben herab in der Frankfurter Rundschau. Vor allem berichtet die FR gar nichts von dem, was FREITAG gewissenhaft ausbreitet. Nach französischem Muster scheint es inzwischen - zumindest in Berlin - in linken Buchhandlungen schon Durchsuchungen zu geben, um die dünne Broschüre als potentielle "Aufforderung zur Gewalt" der Neugier deutscher Leserinnen und Leser zu entziehen. Nichts lächerlicher, aber auch nichts gefährlicher als solche Versuche, die gut gepolsterte staatliche Hand über Mund, Ohr und Auge zu legen.
Mit dem gleichen Recht könnte man auch das "Kommunistische Manifest" mal wieder verbieten. So unerbittlich beide Schriften die Notwendigkeit der revolutionären Erhebung beweisen, so wenig handwerkliche Anweisungen zu ihrer Durchführung enthalten sie. Zum Beispiel zum Hakenwerfen gegen Elektro-Leitungen oder zum "Schottern". Hinzu kommt, dass beide Werke seit geraumer Zeit aus dem internet herunterzuladen sind, nach Wunsch auf Deutsch oder Französisch. Staatliche Fürsorglichkeit kommt auf jeden Fall zu spät.
Der Text beginnt mit schärfster Analyse der Gesamtkrise. Mit einem Ohr aus dem Fernseher die Schlingenziehung und Selbsteinwickelung der GRÜNEN in Freiburg verfolgend, gewinnt für den Leser die pointierte Zuspitzung erst vollen Reiz.
Wie La Rochefoucauld, Retz und andere unvergessene Schriftsteller schon des Barock beschäftigen sich die anonymen Autoren mit dem menschlichen Zusammenleben. Analyse und Beschreibung. Der Beiname "Moralisten" der Gruppe erzeugt im Deutschen die irreführende Assoziation, es gehe bei diesen Überlegungen um "Moral". Also um Wegweisung. Um die geht es diesen Beschreibern am wenigsten. So haben auch die Anonymen sich schon im Stil vor allem an einen der letzten französischen Moralisten- Debord mit seinem Buch über das "specctacle" gehalten.
In mindestens drei Punkten gehen die Herausgeber über die Feststellungen auch eines Debord hinaus. Wird von den meisten Lebenskünstlern hier wie im Nachbarland eine Art sanfter Gefälligkeit in der Wahl der Lebensformen vorgeschlagen, nach den Regungen unseres "Ich", weisen die Texte nach, dass dieses Ich - von Descartes zu Beginn der Neuzeit als die Grundlage des uns gegebenen Seins gepriesen -, nur noch über hundert Prothesen sich erhalten und bewegen kann. Allerlei Begriffe aus den Hilfswissenschaften müssen herhalten, damit wenigstens die Ich-Illusion durchhält. So etwa Aufstiegswillen und Geltungssucht als Natur-Konstanten. Wir haben uns deren nicht zu schämen, sondern dem tüchtig zu folgen, was Natur uns vorschreibt. Die der "res cogitans" einst von Descartes versprochene Erkenntnis entfällt dabei komplett.
Scharf auch die Vernichtung aller sozialen Bindungen in den Papieren. Alles Soziale ist nicht nur zur Ware geworden, sondern wird auch als solche eingetrieben von denen, die Arbeitsplätze zuzuweisen haben.Die Freundlichkeit der Sekretärin gegenüber gewissen Personen wird ebenso Pflicht wie abweisendes Verhalten gegenüber betrieblich nicht Vorgesehenen.Alles abrufbar und der Kontrolle ausgesetzt.
Schneidend schließlich die Abweisung aller Verpflichtungen gegenüber der "Umwelt". Das deutsche Wort sagt hier noch mehr als das französische, dass diese Umwelt uns als ein total Fremdes gegenübertritt. Ein Mantel. Matt dargeboten - oder als Zwangsjacke übergezogen? Gleichviel. Mit mir als empfindendem Wesen hat diese Umwelt keinerlei Verbindung. Umwelt - sagen die Autoren- das ist ihnen der Küchengeruch im Hausgang, das Rascheln der Platanenblätter vor der Tür im Herbst, der kratzige Geschmack des nicht vollvergorenen Weins. Kritisiert wird also am Begriff Umwelt, dass noch über Descartes hinaus jede unmittelbare sinnliche Berührung weggedacht werden muss mit dem, was uns umgibt.
All diesen Zerstörungen eines jeden Zusammenhangs setzen die atomisierten Autoren des Papiers in einer atomisierten Welt spontane Zusammenschlüsse entgegen. Alle Zusammenschlüsse, in welchen die Teilnehmenden einen unerschütterlichen Willen zum "Nein" entwickeln, können als "Commune" verstanden werden.
Mit diesem Bild verbinden die anonymen Autoren ihr eigenes Auftreten. Namenlosigkeit ist erste Voraussetzung- und notwendige Tarnung. Es darf keinen Führerkult geben in der Welt der Commune. Nicht einmal zugegebenen Beratungsbedarf. Paradoxerweise wird gerade das gerühmt, was in sit-ins meiner Erinnerung nach am meisten nervte: das Reden um des Redens willen. Das Reden, in welchem das Gemeinschaftsgefühl erst zu sich kommen soll, als Ausdruck, als Geste, als Schöpfung des Gemeinsamen, das doch zugleich immer schon vorausgesetzt wird.
Gegen den analytischen Ansatz der Gruppe ist nichts einzuwenden. Nichts auch gegen die Überlegungen zur Gewalt. Da der Staat bekanntlich nicht nur Gewalt - gegen seine Funktionäre - scharf verfolgt, sondern immer neu nach den Gegebenheiten festlegt, wo Gewalt anfängt und was als solche zu gelten hat, ist klar, dass der Gewaltvorwurf auf jeden Fall erhoben wird und in Rechnung zu stellen ist.
Ein Einwand wurde von den deutschen Rezensenten immer neu erhoben: Wenn erst der Staat abgeschafft ist und "Kommunen" sich in gegenseitiger Berührung des Geländes bemächtigt hätten, würden dann nicht wie im heutigen Mexiko einfach Banden sich selbst den Titel der Commune zusprechen und brutal um sich greifen? Nicht einmal mehr durch die restliche staatliche Autorität - wie jetzt - zurückgehalten?
Das Argument zieht nur dann, wenn die Kraft, die die Communes zusammenhält, für schwächer angesehen wird als die Gewalt der Störenden.
Über diese Kraft wird freilich im Papier selbst analytisch nichts ausgesagt, nur das Beispiel der spontanen Revolten in Deutschland und Frankreich aufgezählt. Da die gleichen Banden nun eben ein Mexiko durchziehen, das selbst Staat zu sein beansprucht in voller Brutalität, könnte das Befürchtete auf jeden Fall auftreten. Mit und ohne beibehaltenen Staatsfetisch.
Mir drängt sich eine ganz andere Schwierigkeit auf. Um - als einer der Autoren - die unverbrüchliche Einigkeit in den Communen, in den aufgewachten Vorstädten Frankreichs zu empfinden, müsste einer von Anfang an tief drinstecken. Den Gelberübengeruch im Hausgang selbst gerochen haben seit seinem fünften Lebensjahr - und ihn bejahen. Nebst allem, was Nase und Ohr in diesen Gegenden erreicht.
Das, scheint mir, setzt vorbehaltlose Zustimmung voraus. Wie ließe sich damit aber verbinden die bittere Distanz zu allem Bestehenden, das manchmal fast höhnische Drüberwegsein des Durchschauenden, Wissenden? Mit anderen Worten: das abweisende Stilbewusstsein, das genau die Verführungsgewalt der Texte ausmacht?
Bei aller gefühlsmäßigen Zustimmung zum Anarchismus fühlte ich mich - trotz seiner gedanklicher Schwäche - eher verbunden mit Stirner und seinem "Einzigen und sein Eigentum" - oder mit dem amerikanischen Thoreau in der Hütte. Also immer trotz allem: Draußen.
Diese Schranke könnte ich im Augenblick nach erster Lektüre des Manifests nicht überspringen, bei aller Bewunderung für den scharfen Sinn und das kühne wollende Herz, die daraus sprechen.
Das Buch kann als PDF Datei herunter geladen werden, auch im französischen Original sowie in einer englischsprachigen Übersetzung. Wer es lieber als Printausgabe lesen möchte, kann es beispielsweise hier bestellen.