Schönes neues Netz - Deutschland im Jahre 2015
26. März 2009 von Spiegelfechter - Drucken
Robert hatte schlecht geschlafen. Seit er vor zwei Monaten seinen neuen Job bei der Bundesprüfstelle für elektronische Medien angetreten hatte, passierte ihm das häufiger. Immer wieder verfolgten ihn diese Träume, die ihm den Schlaf raubten. Roberts berufliche Aufgabe bestand darin, Inhalte des World Wide Web zu überprüfen. Seitdem sich im Jahre 2010 die Internetkriminalität epidemisch ausbreitete, hatte der Staat dem „alten Netz“, wie man es heute nennt, den Kampf angesagt. Um der Gefährdung begegnen zu können, ohne die Bürger selbst in akute Gefahr zu bringen, wurde 2013 auf Betreiben des Innen- und des Familienministeriums das „Gesetz für reine Netzmedien“ erlassen. Deutsche Zugangsprovider durften fortan normalen Kunden nur noch das neue Netz, das WWW2, anbieten. Um Internetseiten im WWW2 anbieten zu dürfen, muss der Seitenbetreiber eine freiwillige Zulassungsprüfung beantragen. Um die wirtschaftliche Basis des Standorts Deutschland nicht zu gefährden, wurde „Trusted Companies“ allerdings ermöglicht, diese Zulassungsprüfung zu umgehen. Als Gegenleistung mussten diese Unternehmen eine Kaution in Höhe von 100.000 Euro hinterlegen, die allerdings voll steuerabzugsfähig war. Robert hatte daher auch nur selten mit professionellen Anbietern zu tun, sein Tätigkeitsfeld waren vielmehr private Internetseiten und vor allem sogenannte Weblogs – eine Netzsubkultur, die sich im letzten Jahrzehnt gebildet hatte und deren Vertreter nur all zu oft mit den neuen Gesetzen in Konflikt kamen.
Das Netz ist ein Spiegelbild seiner Bewohner, und genauso wie in der realen Welt muss sich eine offene Gesellschaft auch im Netz vor Individuen schützen, die die inneren Werte der Gesellschaft systematisch zu untergraben versuchen. Um die Schwächsten unserer Gesellschaft, unsere Kinder, zu schützen, hatte die CDU-Regierung nach ihrem historischen Wahlsieg im Jahre 2009 deutsche Internetprovider erstmals gesetzlich dazu gezwungen, bestimmte Angebote des „alten Netzes“ zu sperren. Leider hatten diese ersten Zugangsregelungen nur wenig Erfolg. Im Gegenteil – nachdem die deutsche Sperrliste auf den ersten sogenannten „Datenschutz-Seiten“ auftauchte, breitete sich die Kinderpornographie im Netz mit rasanter Geschwindigkeit aus. Wer auf diese Liste verlinkte, oder auf Seiten verlinkte, die ihrerseits auf Seiten verlinkten, die die Liste verlinkten, machte sich strafbar. Die betroffenen Seiten – die meisten waren besagte Weblogs – wurden daraufhin selbst auf die Sperrliste gesetzt, was wiederum solche Seiten in das Visier der ermittelnden Behörden beförderte, die auf die Neuzugänge der Sperrliste verwiesen. Binnen eines Jahres wuchs so nicht nur die Sperrliste auf über 10.000 Einträge, die offizielle Kriminalstatistik über Kinderpornographie im Internet wuchs ebenfalls in einem epidemischen Maß.
Um dieser Gefahr für unsere Kinder adäquat zu begegnen, erarbeitete das BKA damals einen Maßnahmenkatalog. Zur Entlastung der Gerichte wurde straffälligen Bürgern in einem Schnellverfahren der Zugang zu elektronischen Medien auf Lebenszeit untersagt. Provider mussten ihre Kundenlisten mit dem BKA abgleichen und jeder Neuantrag wurde penibel überprüft. Technische Hilfsmittel, die dazu imstande waren, die staatliche Sperrliste zu umgehen, und deren Nutzung wurden verboten – ebenso wie elektronische Schriften, die auf solche Angebote verwiesen. In Folge der neuen Gesetze wuchs die Internetkriminalität weiter in bisher unbekanntem Maß. Die Behörden konnten ihre Pflicht, die Bürger des Landes vor der Kriminalität aus dem Netz zu schützen, nicht mehr wahrnehmen und die Sperrliste war mittlerweile auf über 250.000 Einträge angewachsen, was nicht zuletzt eine Folge der Ausweitung auf andere Bereiche der Internetkriminalität geschuldet war. Da die deutsche Volkswirtschaft in der Weltwirtschaftskrise vor Produktpiraterie, Urheberrechtsverletzungen und illegalen Glücksspielen geschützt werden musste, wurden 2011 auch diesbezügliche Inhalte in die Sperrliste aufgenommen.
Der Kampf gegen die grassierende Internetkriminalität war im Bundestagswahlkampf 2013 dann auch die primäre Forderung des Unions-Kanzlerkandidaten von Guttenberg. Politische Brisanz gewann dieses Thema auch deshalb, weil im Jahr zuvor zahlreiche Abgeordnete der Parteien „die Linke“ und „die Grünen“ wegen des rechtswidrigen Konsums verbotener Internetinhalte aus dem Bundestag ausgeschlossen wurden, woraufhin auch Partei-Verbotsverfahren angestrengt und durchgesetzt wurden. Kein Raum für Nazis, Kommunisten, Pädophile und Internetbanditen – so forderte damals die BILD, deren ehemaliger Chefredakteur Kai Diekmann in der Regierung Guttenberg als Medienkoordinator maßgeblich am neuen, sauberen Netz, dem WWW2, mitarbeitete.
Durch das „Gesetz für reine Netzmedien“ konnte die Internetkriminalität in Deutschland endlich besiegt werden. Zugang – unter strenger Überwachung - zum „alten Netz“ hatten fortan nur noch ausgesuchte Personen, die nachweisen konnten, dass sie das Netz für Marktanalyse oder Forschungszwecke benötigten. Dadurch konnten letztendlich die deutschen Bürger wirkungsvoll vor den renitenten Content-Providern geschützt werden, die unter ständig wechselnder Identität über russische und chinesische Hoster ihre Weblogs betrieben und unter dem fadenscheinigen Argument des „Datenschutzes“ Partei für Pädophile, Nazis, Kommunisten und Internetbanditen ergriffen. Einige dieser Blogger entzogen sich als selbsternannte Cyberdissidenten dem Zugriff deutscher Behörden. Da Internetkriminalität zu einem international verfolgter Straftatbestand gemacht wurde, konnten diese Cyberdissidenten nur aus solchen Ländern heraus operieren, die sich beharrlich weigerten, Internetstraftäter nach Deutschland auszuweisen – neben China und Russland gehörten vor allem die krypto-sozialistischen und weltweit geächteten Staaten Südamerikas dazu.
Tag für Tag musste Robert sich diese Erzeugnisse anschauen. Wenn er eine Seite für unbedenklich hielt, verfasste er einen Bericht, der an die zuständige Stelle in Dieckmanns Informationsministerium weitergeleitet wurde. Dass eine solche Seite von den Behörden eine Betriebserlaubnis für das WWW2 erhielt, hatte Robert allerdings in seiner zweimonatigen Arbeitszeit noch nie erlebt. Gestern musste er den Antrag eines dieser unbelehrbaren Blogger bearbeiten. Der deutschstämmige Cyberdissident, der sein Angebot ins WWW2 stellen wollte, war den Behörden kein Unbekannter. Früher hatte er mit dem Weblog „Spiegelfechter“ bereits gegen diverse Gesetze verstoßen und tauchte in der Vergangenheit bereits mit mehreren Angeboten auf der deutschen Sperrliste auf. Damals konnte er sich nur durch die Flucht nach Kuba einer langjährigen Haftstrafe entziehen. Solche Bewerber hatten keine Chance, eine Betriebserlaubnis zu bekommen. Das wusste Robert nur zu gut. Früher hatte Robert selbst einmal das Weblog „Spiegelfechter“ gelesen – aber das war auch, bevor die Internetkriminalität zu einem staatsgefährdenden Problem wurde. Robert wusste damals nicht, was er tat – er war ja noch jung und unerfahren. Über die Gefahr solcher Seiten hatte er erst später aus Medien wie dem SPIEGEL erfahren. Antrag abgelehnt! Robert war müde, er hatte immer wieder diese Träume, die ihn verfolgten. Er wusste nicht weshalb.
Jens Berger